Unserer Stellungnahme haben wir den Gesetzesentwurf mit der Geschäftszahl: 104/ME XXVI, GP samt ergänzenden Erläuterungen zugrunde gelegt.
Das „Bündnis Tirol“ ist ein Zusammenschluss von über 300 Einrichtungen, Institutionen und Dachverbänden in Tirol. Wir vertreten die gesamte Bandbreite von Menschen die durch Regelungen in der Mindestsicherung / Sozialhilfe in ihren Lebensverhältnissen betroffen sind.
Wir haben, soweit uns dies möglich war, als Vergleich nicht nur das geltende Tiroler Mindestsicherungsgesetz, sondern auch die entsprechenden Gesetze der anderen Bundesländer für die Begutachtung herangezogen, um Auswirkungen auf den vorliegenden Entwurf eines Grundsatzgesetzes möglichst flächendeckend beurteilen zu können.
Vorab ist folgendes
festzuhalten:
Wird das Gesetz in dieser Form beschlossen, bedeutet das einen Rückschritt in
die Zeit vor der Erlassung von Sozialhilfegesetzen in den Siebzigerjahren des
letzten Jahrhunderts. Der Gesetzesentwurf präsentiert sich in erster Linie als
Disziplinierungs- und Bestrafungsinstrument.
Die Ziele der Mindestsicherung (nun Sozialhilfe) werden grundlegend verändert. Die bisher obersten Grundsätze des letzten sog. sozialen Netzes in Österreich, die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die Überwindung von Notlagen und die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, wurden ersatzlos gestrichen. Dafür wurden Ziele definiert, die weder durch die Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe erreichbar sind, noch deren Aufgabe sein dürfen (Integrationspolitische und fremdenpolizeiliche Ziele, Förderung der Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes, sowie strafrechtliche Nebenstrafen).
Die formulierten Höchstgrenzen (siehe § 5) ermöglichen in keinem Bundesland ein menschenwürdiges Leben. Noch einmal dramatischer stellen sich die Folgen für Bundesländer wie Tirol dar, wo hohe Lebenshaltungs- und Wohnkosten auf ein niedriges Lohnniveau treffen. In Tirol führen die geplanten Regelungen ohne Ausnahme für alle betroffenen Menschen zu weiterreichenden Kürzungen (bis zu 100% der hoheitlichen Unterstützung).
Die betroffenen Menschen werden durch den Beschluss dieser Regelungen in die Verelendung getrieben. Folgend sollen nur einige der zahlreichen negativen Auswirkungen des Gesetzesentwurfes benannt werden:
- Kinderarmut wird bewusst gefördert und damit einhergehend die Verhinderung von Chancen auf Bildung und Zukunftsperspektiven eines Teils einer ganzen Generation. Der mittelfristige volkswirtschaftliche Schaden ist absehbar und wird immense Folgekosten nach sich ziehen.
Mit über einem Drittel der Bezieher_innen stellen Kinder die größte Anspruchsgruppe dar und müssen gleichzeitig eine der weitreichendsten Kürzungen (bis zu 80%!) hinnehmen – sie sind damit die „größten Verlierer_innen“ des geplanten Gesetzesvorhabens! Betroffen sind 81.334 Kinder österreichweit – 5.155 davon in Tirol (Zahlen aus 2017).
Der vorliegende Gesetzesentwurf widerspricht darüber hinaus klar der Kinderrechtskonvention sowie dem Kindeswohlvorrangigkeitsgebot! - AlleinerzieherInnen und Familien werden durch die geplanten Höchstsätze sowie die Deckelungen der Leistungen, sehenden Auges in existentielle Notlagen getrieben. Eltern wird die adäquate Versorgung und Förderung ihrer Kinder verunmöglicht. Auch die Möglichkeit der Gewährung eines Alleinerzieher_innenbonus, vermag die weitreichenden Leistungsreduktionen bei weitem nicht aufzufangen, da es den Ländern einerseits völlig freistehen wird, ob sie solche Leistungen überhaupt gewähren und andererseits es keine Rechtssicherheit mehr gibt, da es sich um eine privatrechtliche Leistung handelt.
- Der vorliegende Gesetzesentwurf bringt auch für Menschen mit Behinderung, aber auch für alte und kranke Menschen weitreichende Kürzungen mit sich. Da Mindestsicherung für diese Menschen häufig die einzige Möglichkeit einer existentiellen Absicherung ist und sie daher – im Gegensatz zum Großteil der Bezieher_innen – dauerhaft darauf angewiesen sind, treffen sie diese Einschnitte besonders hart. Trotz Berücksichtigung des privatrechtlichen „Bonus“ für Menschen mit Behinderung, sind betroffene Menschen in Tirol mit Kürzungen von bis zu 50 % konfrontiert.
- Die weitere Zunahme von Wohnungslosigkeit, mit all ihren individuellen und gesellschaftlichen Folgen, wird nicht nur nicht verhindert, sondern – im Gegenteil – bewusst produziert. Insbesondere in Bundesländern wie Tirol, mit sehr hohen Wohnkosten, werden Teile der Landesbevölkerung in die Wohnungsnot getrieben.
- Integration wird erschwert bzw. durch einzelne Regelungen vollkommen verhindert. Der „Arbeitsqualifizierungsbonus“ stellt bei näherer Betrachtung wieder eine Wartefrist für Personen ohne Pflichtschulabschluss bzw. ohne sehr gute Deutsch- oder Englischkenntnisse dar und verletzt damit Verfassungs- und Europarecht.
- Der Ausschluss von subsidiär Schutzberechtigten verunmöglicht deren Integration und entzieht diesen Menschen und ihren Kindern jegliche Lebensgrundlage und Perspektive.
- Für Personen, die zu (bedingten) Haftstrafen verurteilt wurden kommt es zu einer Doppelbestrafung und dies ist mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar. Weiters kann Mittellosigkeit zu weiterer Kriminalität führen und konterkariert damit die Intention einer bedingten Haftstrafe.
- Die Aufnahme und Betreuung in Gewaltschutz-, Krisen- und Wohnungsloseneinrichtungen wird durch die Deckelung der Leistungen je Haushaltsgemeinschaften verunmöglicht. Den betroffenen Menschen (insbesondere Frauen und Kinder) bleibt damit die notwendige Unterstützung versagt, den sozialen Einrichtungen die Hände gebunden.
- Die den Ländern vorgeschriebenen „abschreckenden Sanktionen“, bedeuten de facto weitreichende Kürzungen ohne Sicherstellung eines minimalen, zum Überleben notwendigen Betrages. Die Sicherstellung der Übernahme von Wohnkosten zur Verhinderung von Mietrückständen und Delogierungen, sowie Gewährleistung von Schutz für mitbetroffene Kinder und weitere Personen im gemeinsamen Haushalt, fehlt völlig.
- Bezüglich des Sozialhilfe-Statistikgesetzes ist festzuhalten, dass eine Verletzung des Verfassungsgesetztes zum Datenschutz vorliegt.
Abschließend ist zu kritisieren, dass der Bund in diesem Grundsatzgesetz Maximalbeträge bzw. Höchstsätze anstelle von Mindeststandards festlegt. Den Ländern werden durch den vorliegenden Entwurf praktisch keine Spielräume für adäquate, spezifische Problemlösungen vor Ort eingeräumt. Die Regelungen sprengen teils sogar den verfassungsrechtlichen Rahmen eines Grundsatzgesetzes.
Darüber hinaus entspricht die Qualität des Gesetzesentwurfes auch hinsichtlich der Lesbarkeit und Bestimmtheit nicht dem rechtsstaatlichen Prinzip. So bleibt insbesondere die Regelung gem. § 5 Abs. 5 des vorliegenden Entwurfes missverständlich und determiniert die weitere Ausgestaltung des Gesetzes durch die Bundesländer nicht in der gebotenen Klarheit und Eindeutigkeit.
Insgesamt ist der
Entwurf aus den angeführten Gründen in seiner Gesamtheit abzulehnen.
Ein Gesetz, das menschenwürdiges Leben sichern und existenzsichernde Maßnahmen,
sowie das Ziel einer funktionierenden Gesellschaft erreichen will, muss
grundlegend anders verfasst sein.
Dies setzt einerseits ein grundlegendes anderes Verständnis von sozialer Absicherung und andererseits die Einbindung von Fachleuten aus der Praxis und den Ländern voraus.
Die Bundesregierung wird daher dringend ersucht, von der Umsetzung dieses Gesetzes Abstand zu nehmen!
Mit freundlichen Grüßen
die Unterzeichner_innen